Preventable and treatable
So bezeichnet die WHO den Tod von 5,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die in 2019 aus Gründen gestorben sind, die „mit Zugang zu einfachen, erschwinglichen Interventionen [hätten] verhindert oder behandelt werden“ können.
Wen wir Rettet und wen nicht: Die Corona Pandemie ist eine weltweite Katastrophe, die uns aber immerhin handeln lässt. Warum begegnen wir nicht allen tödlichen Bedrohungen so konsequent? Nicht mal der, die unter humanitären Gesichtspunkten, eine der größten Grausamkeiten darstellt, die sich unsere Weltgesellschaft leistet?
Dies sind traurige Tage. Gestern hat laut der Johns Hopkins University die Zahl der Covid-19-Toten weltweit die Zahl von 1.600.000 überschritten. Täglich sind es bis zu 13.000 Menschen [1] und niemand weiß, wie hoch die Dunkelziffer ist. Menschen, die noch hier wären, wenn das Virus nicht weltweit sein Unwesen triebe. Einer der Aspekte, die den Tod an den Folgen einer Covid-19 so furchtbar machen, ist der Umstand, dass so viele Betroffene zum Zeitpunkt ihres Todes auf Isolierstationen liegen. Was bedeutet: Sie sterben allein. So viele Trauernde, die sich nicht verabschieden können, so viele, die ohne den Beistand ihrer Angehörigen gehen müssen [2].
Wenn etwas an der allgemeinen Situation Anlass zu Hoffnung gibt, dann die Tatsache, dass unsere globale Gesellschaft in weiten Teilen bereit ist, große persönliche und wirtschaftliche Opfer zu bringen, um schwächere Gruppen, wie ältere Menschen oder solche mit Vorerkrankungen, zu schützen. Etwas, das bis vor kurzem noch unmöglich schien, ist eingetreten: Die überwiegende Mehrheit aller Regierungen, Organisationen, Unternehmen und Einzelpersonen arbeiten weltweit zusammen und tun alles, um eine noch schlimmere Katastrophe abzuwenden. Viele nehmen dafür, völlig selbstlos, eine Menge auf sich: Wirtschaftliche Einbußen, Freiheitsbeschränkungen, Bildungsrückstände, bis hin zur Gefahr, selbst angesteckt zu werden und an Covid-19 zu sterben. So starben in Italien während der ersten Welle allein bis Mitte April ca. 120 ÄrztInnen, 30 KrankenpflegerInnen [3] und mehr als 100 Priester [4]. Aber vor allem: Während der ersten Lockdown Phase im Frühjahr brach allerorten die Wirtschaftsleistung ein. Die Börsenkurse purzelten nur so und wann war unsere Gesellschaft je bereit das in einem solchen Ausmaß in Kauf zu nehmen, um Leben zu retten?
Ein nahes Lebensende, ist kein Grund jemanden nicht zu schützen.
Verschiedenen Quellen [5] zufolge sind etwa 70% der Opfer über 70 Jahre alt. Es ist sicher nicht richtig, den Wert eines solchen Todes geringer einzuschätzen, mit der Begründung, dass der Großteil der betroffenen Personen auch ohne Corona dem Tod nahe steht. Nicht nur unter ethischen Gesichtspunkten, sondern auch, was unsere gesellschaftliche Praxis betrifft. Die Regularien rund um die Patientenverfügung und die Sterbehilfe sind streng, die Debatten darüber schwierig und emotional. Das kann nichts anderes bedeuten, als dass in unserer Gesellschaft ein Leben zählt, egal, wie lange es noch währen möge. Es entspricht ja auch nicht der juristischen Praxis, das Strafmaß für Mord am Alter des Opfer fest zu machen, so dass der Mord an einem Neunzigjährigen geringer bestraft würde, als der an einem Fünfzigjährigen. Und: Immerhin in einer YouGov Studie mit 1240 Teilnehmern, die in Deutschland, UK und den USA durchgeführt wurde, gaben 6% der Befragten an, das ideale Alter liege für sie bei mindestens 65 Jahren [6]. Wer von uns empfindet es nicht als tragisch, wenn er erfährt, dass jemand kurz nach der Erreichung des Rentenalters gestorben ist?
All das sind Belege dafür, dass das Alter des Opfers für die aktive Abwendung eines vermeidbaren Todes keine Rolle spielen sollte, auch wenn es uns selbst gefühlsmäßig näher geht, wenn ein junger Mensch stirbt, der so nicht mal die Chance auf ein langes und erfülltes leben hat.
Über den Maßstab an einzusetzenden Mitteln, vom Lockdown bis zur Wirtschaftsrettung, ist es schwieriger zu beurteilen: Wer weiß, wie viele gestorben wären, wenn weniger getan worden wäre, um die Ansteckungen zu verhindern. Wer weiß, wie die wirtschaftliche Situation sich entwickelt hätte, wenn die Staaten weniger Geld ausgegeben hätten. Auch wenn tatsächlich Grenzen gezogen wurden, ist es kaum möglich, die Corona-Maßnahme anders zu bewerten als: „Es wurde alles Menschenmögliche getan“.
Unsere Gesellschaft kann anscheinend unter vielen Umständen hohe Opferzahlen akzeptieren.
Dennoch ist klar, dass es in unserer Gesellschaft unter anderen Umständen durchaus Abwägungen gibt, ein einzelnes oder wenige Menschenleben geringer zu schätzen und den Tod in Kauf zu nehmen, ganz nach dem Motto, dass man nicht jeden retten kann. Zum Beispiel hat es 30 Jahre gedauert, bis wir von 20.000 Verkehrstoten in den 70-Jahren, durch Maßnahmen, wie Geschwindigkeitsbegrenzungen, Helm- und Gurtpflicht, Promillegrenzen und die Einführung weiterer Sicherheitstechnik auf wenig mehr als 3.000 im Jahr 2019 gekommen sind [7].
Krasse Maßnahmen wie die sofortige Einstellung des motorisierten Individualverkehrs standen hier nie zur Debatte, obwohl sie, wenn auch nur theoretisch, möglich gewesen wären. Allein in den Jahren 1969-1974 hätte das mehr als 100.000 Leben gerettet (weltweit sind es heute noch 1.35 Mio. Auch das ist eine globales Problem [8]). Ihr Leben war letztendlich weniger Wert, als es der enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche Schaden von Fahrverboten gewesen wäre (schwer zu verstehen ist allerdings, dass die Empfehlungen des deutschen Verkehrssicherheitsrates [9] von einem generellen Tempolimit auf Autobahnen von 120 km/h nicht umgesetzt werden, obwohl bekannt ist, dass dies 26% weniger tödliche Unfälle auf Autobahnen [10] und ca. um 3 Mio. Tonnen geringere CO2 Emissionen bedeuten würde. Zumal es von einer Mehrheit der Deutschen befürwortet [11] und neben dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat auch von der Polizeigewerkschaft empfohlen wird [12]. Es ist zudem praktisch internationaler Standard, denn Deutschland ist die einzige westliche Industrienation, in der kein generelles Tempolimit auf Autobahnen gilt [13]).
Natürlich sind Unfälle nicht ansteckend und somit können mit einem generellen Fahrverbot nicht potentiell noch mehr Opfer vermieden werden, weshalb der Vergleich hinkt. Dennoch ist klar: Nicht jedes Leben ist es unserer Gesellschaft Wert, unter allen Umständen gerettet zu werden.
5,2 Millionen vermeidbare Tode.
Abseits aller Ethik, ist der Maßstab für die Bereitstellung von Maßnahmen der Kategorie „Alles Menschen mögliche“, anscheinend eine Abwägung zwischen Kriterien, wie: Die zu erwartenden Anzahl der Opfer, die Art und Unmittelbarkeit der Bedrohung (kann es jeden treffen oder nur eine bestimmte Gruppe von Menschen? Haben diese womöglich durch ihr Verhalten selbst Einfluss auf das Risiko, wie Raucher z.B., …), des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einflusses und sicherlich auch der generellen Vermeidbarkeit.
Aber es muss noch mehr geben, was uns zögern läßt, bevor wir eine Katastrophe mit allen Mitteln abwenden. Die Sterblichkeitsrate der kleinsten und schwächsten Gruppe, die an schlechter medizinischer Versorgung, mangelnder Hygiene, unsauberem Wasser oder einfach an Hunger stirbt, ist seit Jahren rückläufig [14]. Und zwar weltweit.
Dennoch starben im Jahr 2019 nach übereinstimmenden Angaben von UNO [15] und WHO [16] 5,2 Mio. Ungefähr ein zehntel aller Toten eines Jahres. Kinder unter fünf Jahren an – den Worten der WHO zufolge – „behandelbaren und vermeidbaren“ Todesursachen. Während du diesen Text liest, sind es im Schnitt ca. 120, aber sie sterben auch wenn du den Text nicht liest. 14.000 Kinder unter fünf Jahren jeden Tag.
Wenn nach einer Definition für den Begriff „Gruppe der Schwächsten“ gesucht werden müsste, wäre „Kinder unter fünf Jahren“ ein guter Vorschlag. Es ist, wie dargelegt, nicht gerechtfertigt, jemanden vor dem Tod nicht zu schützen, weil er nur noch wenige Jahre Lebenserwartung hat. Wie könnte das nicht gelten, wenn jemand noch sein ganzes Leben vor sich hat? Nach Einschätzung von David Beasley, Chef des Welternährungsprogramm (WFP), das dieses Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, kann man mit Geld etwas dagegen tun. Weil das so ist, hat er die Milliardäre dieser Welt darum gebeten. Baesley ist US Amerikaner und gehört der Republikanischen Partei an. Er ist deshalb absolut unverdächtig, von sozialistischen Ideen durchdrungen zu sein. Dennoch scheint er der Meinung zu sein, dass die Vermögen in der Welt ungerecht verteilt sind [17].
Liegt es daran, dass wir von Corona theoretisch auch selbst betroffen sein könnten? Oder daran, dass die Folgen einer Pandemie einfach unmittelbarer wahrnehmbar sind, als die des Klimawandels oder des Artensterbens? Oder auch der unnötige Tod von Millionen Kindern? (Bild links: Quelle UNICEF)
Was auch immer der Grund sein mag, hinter der Tatsache, dass die Weltgesellschaft nicht in jedem gebotenen Fall so einig und konsequent handelt, schaut eine überaus unbequeme Wahrheit hervor: Nach dem, was in der Pandemie möglich war, werden wir nie mehr sagen können, dass die Erderwärmung, das Artensterben und tödliche Armut nicht zu stoppen gewesen wäre. Nur, dass wir es nicht wollten.
Und so müssen wir, und erst recht die Menschen, die in unserer Gesellschaft größere Verantwortung tragen, damit leben oder es ändern.